Der atomare Erwartungswert – oder: warum man als Ökonom gegen Atomkraftwerke sein sollte

Kennen Sie den Erwartungswert? Eine statistische Größe, die sich aus dem möglichen Resultat eines Ereignisses und dessen Wahrscheinlichkeit ergibt. Wenn also die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine Gehaltserhöhung bekommen, bei (im Falle Ihres Chefs vermutlich sehr realistischen) 5 % liegt, und die mögliche Gehaltserhöhung bei 50 Euro brutto liegt, dann berechnet sich Ihr Erwartungswert aus dem Produkt: 0,05 x 50 Euro = 2,50 Euro. Das ist sehr niedrig, weil a) eben die Wahrscheinlichkeit sehr niedrig ist und b) hier der mögliche Betrag der Gehaltserhöhung gleich mit. Also werden Sie sicher nicht zu Ihrem gemeinen und bösen Chef gehen, um mit ihm über Ihr Gehalt zu reden. Nicht für 2,50 Euro, denn alleine der Gedanke an das Gespräch kostet Sie wahrscheinlich in Geld umgerechnete 500 Euro an Nerven.

Wie sieht eine solche Betrachtung für den Betrieb von Atomkraftwerken aus? Der Erwartungswert eines Super-GAUs? Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Atomkraftwerk so außer Kontrolle gerät, dass es zu einer Kernschmelze kommt, musste früher geschätzt werden. Die „Experten“ gaben die Wahrscheinlichkeit mit einer geringen Größe an: alle x-tausend Jahre einmal. Heute wissen wir leider, dass es häufiger vorkommt. Sagen wir realistischerweise alle 25 Jahre (überraschenderweise ist das der Zeitraum zwischen dem Tschernobyl- und dem Fukushima-Super-GAU …). Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es an einem x-beliebigen Tag an einem x-beliebigen AKW zu einer großräumigen radioaktiven Verseuchung kommt, etwa bei 1:4.000.000 liegt (25 Jahre x 365 Tage x 450 AKW/weltweit). Die Kosten für die Verseuchung einer besiedelten Region von mindestens 10.000 Quadratkilometern in den entwickelten Ländern beziffere ich mal mit durchschnittlich 500 Euro pro Quadratmeter (das ist ein von mir angesetzter Wert, eine Mischung aus Boden- und Immobilienwert, aber auch z. B. Heimatverlust und den Neuerrichtungskosten an anderer Stelle). Ergibt einen Schaden in Höhe von 5 Billionen Euro (100.000 m x 100.000 m x 500 Euro). Diesen Wert teilen wir durch die oben berechnete Wahrscheinlichkeit, dass an einem beliebigen Tag ein Super-GAU eintritt:

Daraus ergibt sich ein atomarer Schadenserwartungswert von 1,25 Millionen Euro je Tag, oder etwa 500 Millionen Euro pro Jahr! Und das statistisch betrachtet für jedes AKW!

Aus volkswirtschaftlichen Gründen sollten daher alle AKW sofort „gestoppt“ werden (Denn der „externe Effekt“ kann nicht „internalisiert“ – also auf den Verursacher zurückgeführt – werden, wie wir Ökonomen sagen. Der Betreiber eines AKW wäre dazu wohl kaum in der Lage, denn dann müsste er jährlich 500 Millionen Euro an die Bevölkerung im Umkreis zahlen. Und welche Versicherung würde schon als Alternative eine Deckung der eventuellen Schadenkosten von 5 Billionen Euro zusagen, mehr als dem Doppelten des Inlandsproduktes der Bundesrepublik?) So wenig wie Sie im allerobigen Beispiel zu Ihrem Chef gehen, so eilig sollten Sie klugerweise dafür eintreten, die von der stromerzeugenden Nutzung der Kernenergie ausgehenden Gefahren zu beenden.

Fazit: Die AKW-betreibenden Energiekonzerne verdienen an der Nutzung der Kernenergie. Die wahren Kosten aber, die nicht in den Bilanzen der Konzerne auftauchen und die um ein Vielfaches höher sind, tragen wir am Ende alle, vor allem die Menschen im Umkreis eines solchen Kraftwerks. Ein ganz schlechtes Geschäft für diejenigen, die nicht AKW-Betreiber sind.

Nachtrag am 11. Mai 2011: Meine finanzielle Schadensprognose lag sehr gut. Heute meldet n-tv: „Laut der vom Beratungsbüro Versicherungsforen Leipzig erstellten Studie beläuft sich die Summe, die für die Abdeckung einer Nuklearkatastrophe realistischerweise bereitgestellt werden muss, allerdings auf rund 6,1 Billionen Euro – ein phantastisch hoher Betrag, der in etwa dem 20-fachen des Bundeshaushalts für das laufende Jahr entspricht. Zu begleichen wären etwa Vermögensverluste durch Umsiedlungen, volkswirtschaftliche Schäden durch die Sperrung ganzer Landstriche sowie Kosten für die Behandlung einer wachsenden Zahl von Krebserkrankungen und Gendefekten in der Bevölkerung.“

Nachtrag am 13. Mai 2011: Meldung auf n-tv: „Die japanische Regierung greift wegen milliardenschwerer Entschädigungsansprüche dem vom Ruin bedrohten Betreiber des havarierten Atomkraftwerks Fukushima unter die Arme. Zunächst ist die Rede von 43 Milliarden Euro für Tepco“ – Wie beschrieben: Die Allgemeinheit zahlt. Keine Versicherung der Welt kommt für die immensen Schäden auf, die ein Super-GAU verursacht. Die externen Effekte bleiben externe Effekte. Man sollte AKW-Betreiber werden, ein besseres Geschäft gibt es nicht (außer riskantem Investment-Banking, da werden die externen Effekte ja bekanntlich auch von der Gemeinschaft getragen!): Alle Gewinne einstreichen und Kosten, die nicht eingeplant werden, übernimmt der Staat. Kaum zu glauben, aber wahr.

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